Cover des Wegweisers Tierversuchsfreie Wissenschaft

Wegweiser Tierversuchsfreie WissenschaftInterview - Marcel Leist

Für unsere Publikation Wegweiser Tierversuchsfreie Wissenschaft haben wir mit Prof. Marcel Leist über tierversuchsfreie Methoden in der Toxikologie gesprochen.

Porträtfoto von Marcel Leist
Prof. Dr. Marcel Leist

Prof. Dr. Marcel Leist, PhD, ist Leiter der Abteilung für in-vitro-Toxikologie und Biomedizin an der Universität Konstanz und Direktor des Center for Alternatives to Animal Testing in Europa (CAAT-Europe). Er hat maßgeblich zur Erforschung von Stammzellmodellen beigetragen, die zur Reduzierung von Tierversuchen und zur Verlagerung auf menschliche Zellen in der toxikologischen und pharmakologischen Forschung eingesetzt werden. 

Herr Prof. Leist, was hat Sie dazu motiviert, im Forschungsbereich der tierversuchsfreien Methoden tätig zu sein? 

Prof. Marcel Leist: Ich bin nicht fundamental gegen Tierversuche, aber ich halte sie nicht für gerechtfertigt, wenn Sie zu schlechten Ergebnissen führen. Ich habe in meiner Zeit in der Industrie erlebt, wie schlecht die Vorhersagen aus Tierversuchen waren. Ich dachte mir, dass es eine bessere Wissenschaft geben muss, bzw. dass man diese schaffen muss. Die Etablierung von Alternativmethoden bedeutet, dass jeder Wissenschaftler die Wahl hat, ob er seine Forschungsfragen mit Tierversuchen oder auf andere Weise lösen möchte. Die nicht-Verfügbarkeit von Alternativmethoden in vielen Bereichen ist daher eine ernsthafte Einschränkung der Forschungsmöglichkeiten und ethisch schwer zu rechtfertigen. 

Auf welches Projekt blicken Sie mit besonders viel Begeisterung und Stolz? 

Prof. Marcel Leist: Ich sehe hier nicht ein einzelnes Projekt, sondern die Vision, jede Forschungsfrage, die den Menschen betrifft, auch mit menschlichen Zellen, Organen oder anderen Modellen angehen zu können. Der Mensch ist keine 70 kg-Ratte und daher haben wir uns immer bemüht die Etablierung und Nutzung von menschliche Modellsysteme voranzutreiben und zu fördern, sei es in der Stammzellforschung oder jetzt bei der Generierung von Organoiden oder mikrophysiologischen Systemen. 

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Können Sie unseren Leser*innen ein Beispiel für eine erfolgreiche Anwendung Ihrer Forschung im Bereich der Toxikologie geben? 

Prof. Marcel Leist: Ein besonders schönes Beispiel ist die Schaffung der in vitro Testbatterie für Entwicklungsneurotoxizität. Hier waren große Organisationen, wie die US EPA oder EFSA involviert. In deren Augen konnten wir erfolgreich zeigen, dass Testungen in diesem Bereich mit menschlichen Zellen sinnvoll sind. Das Projekt wird jetzt in ganz großem Rahmen von der OECD oder großen europäischen Konsortien wie PARC oder ASPIS weitergeführt. 

Welche aktuellen Entwicklungen im Bereich der tierversuchsfreien Methoden zur Toxikologie halten Sie für besonders vielversprechend? 

Prof. Marcel Leist: Im großen Bereich der Industriechemikalien ist eine Weiterentwicklung von Read across und anderen nicht nicht-Test bzw. Computer-basierten Verfahren von großer Bedeutung. Ganz neue Möglichkeiten der Testung bieten komplexe Modelle von Organoiden und (multi)-Organ-on-a-Chip Systemen. Die Anwendung als toxikologische Testmethoden bedarf in den meisten Fällen noch einer Weiterentwicklung und Standardisierung, aber die Palette an Einsatzmöglichkeiten ist extrem breit. 

Im Bereich der Toxikologie wird oftmals von einem Paradigmenwechsel gesprochen – wie kommt das und was ist damit gemeint?  

Prof. Marcel Leist: Paradigmenwechsel ist eine modische Worthülse, die an sich wenig Bedeutung hat, aber oft mit „wissenschaftlicher Revolution“ gleichgesetzt wird. Vermutlich stellt sich jeder etwas Anderes unter einer Revolution vor, die meisten denken dabei allerdings an eine relativ plötzliche und radikale Änderung des Systems. In der Toxikologie werden die Verfahren (Zellkultur oder Computermodelle statt Tierversuche) zur Sicherheitsbewertung und die übergeordneten Prinzipien (mechanistisch statt beschreibend; probabilistisch statt deterministisch usw.) seit 30 Jahren kontinuierlich geändert. Es ist absehbar, dass dies auch 30 Jahre so weitergeht (mit großen Unterschieden in den Bereichen (z.B. Kosmetika vs. Arzneimittel vs. Industriechemikalien). Für mich ist das Fortschritt, wie wir ihn eben auch in jeder anderen wissenschaftlichen oder technischen Disziplin sehen. 

Vor welchen Herausforderungen steht die Forschung im Bereich der Toxikologie fachlich gesehen und welche Schritte unternehmen Sie und andere Wissenschaftler*innen, um diese anzugehen? 

Prof. Marcel Leist: Die ganz große Herausforderung ist die Vorhersage der chronischen Toxizität und der Entwicklungstoxizität. Dazu müssen die Methoden genügend sensitiv sein, aber nicht zu sensitiv (also noch spezifisch genug). Solch große Fragen lassen sich nur in großen Forschungsverbünden lösen. Diese finden sich oft nur für kurze Zeit zusammen, sind dann schwer zu steuern, bevor sie nach wenigen Jahren wiederzerfallen. Man sollte über nachhaltigere und stabilere Strukturen nachdenken, um die großen Verluste an Expertise und Erfahrung zu reduzieren. 

Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach die Rolle der Gesetzgebung für die Weiterentwicklung von tierversuchsfreien Methoden allgemein? Gibt es Verbesserungspotenzial in Deutschland und wo sehen Sie (politisch) den größten Handlungsbedarf? 

Prof. Marcel Leist: Die Gesetzgebung spielt in vielen Bereichen eine Rolle, nicht nur in der regulatorischen Toxikologie. Der Fragenkomplex ist jedoch sehr umfangreich und vielschichtig. Vor diesem Hintergrund wäre es wichtig, zu klaren Zielvereinbarungen zu kommen, ähnlich der Reduktion von CO2 Emissionen. Ohne solche Vorgaben wird sich noch sehr lange sehr wenig bewegen. 

Gibt es ein bestimmtes Land, das Sie für die Etablierung und Erforschung von Alternativmethoden als Vorbild sehen würden? Was läuft dort im Vergleich zu Deutschland besser? 

Prof. Marcel Leist: Die Niederlande sind besonders aktiv. Es gibt dort eine kritische Masse an Forschern und Experten, die dazu führt, dass die Wissenschaft eine gute Qualität hat, talentierten Nachwuchs anzieht und Projekte bei Vergabeverfahren nach wissenschaftlichen Kriterien beurteilt werden können. Wichtig ist die Definition dessen, was eine Alternativmethode ist. In Deutschland ist das sehr altmodisch und konservativ definiert, und es sind oft dieselben Kreise, die die Forschung bewerten. Deren Expertise ist in vielen Feldern sehr dünn und einseitig. Was dann noch bleibt wird manchmal noch durch die Bürokratie und Micromanagement der Geldgeber weitergedämpft. 

Wie sehen Sie die derzeitige finanzielle Förderung der Forschung zu Alternativmethoden? Gibt es Ihrer Meinung nach bestimmte Gründe, weshalb diese im Vergleich zu Tierversuchen nur unzureichend gefördert werden?  

Prof. Marcel Leist: Es ist sehr schwer, hier mit Zahlen zu argumentieren, da die Kategorie „Alternativmethoden“ sehr schlecht definiert ist. Bei der DFG gibt es diese „Fachrichtung“ nicht, und es sicher DFG-geförderte Projekte mit einer bestimmten wissenschaftlichen Frage innerhalb deren Tierversuchen und Alternativmethoden gleichzeitig angewandt und gefördert werden. Für bestimmte Aspekte der Forschungsförderung kann man etwas klarere Aussagen machen. Zum Beispiel bei toxikologischen Methoden gibt es bestimmte Bereiche, für die es praktisch keine Förderung gibt (Validierung und Implementierung von Methoden). Ein anderer Aspekt ist, dass Tierversuche massiv und auf vielen Ebenen indirekt gefördert werden. Strukturen, wie zum Beispiel Tierhäuser, deren Personal und Betriebskosten und die ganzen Verwaltungsstrukturen, die mit der Genehmigung zusammenhängen sind sehr teuer. Mit diesem Geld könnten viele neue tierfreie Ansätze unterstützt werden. 

Was ist ihr nächstes Ziel? Welche Projekte planen Sie als nächstes? 

Prof. Marcel Leist: Ein Lehrbuch zu Ersatzmethoden wäre mal was. Und eine umfassende Strategie zur tierversuchsfreien Testung auch chronischer Toxizität ist sozusagen der heilige Gral. Dem jagen wir derzeit nach. 

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