Cover des Wegweisers Tierversuchsfreie Wissenschaft

Wegweiser Tierversuchsfreie WissenschaftInterview - Kristin Schirmer

Für unsere Publikation Wegweiser Tierversuchsfreie Wissenschaft haben wir mit Dr. Kristin Schirmer über die Entwicklung und den Einsatz von Zellkulturen, insbesondere über Fischzelllinien, gesprochen.

Porträtfoto von Kristin Schirmer
Prof. Dr. Kristin Schirmer

Prof. Dr. Kristin Schirmer leitet an der Eawag, dem Wasserforschungsinstitut des schweizerischen ETH-Bereichs (Eidgenössische Technische Hochschulen), die Abteilung Umwelttoxikologie. Zudem hält sie eine außerordentliche Professur am Lehrstuhl für Umweltwissenschaften (USYS) an der ETH Zürich in der Schweiz.

Frau Professor Schirmer, können Sie unseren Leser*innen einen kurzen Überblick über Ihre Forschung geben? 

Prof. Kristin Schirmer: Der Einfluss von Chemikalien und anderen Stressoren auf Fische ist ein wichtiges Glied in funktionierende aquatischen Ökosystemen. Dafür verwenden wir soweit als möglich sogenannte Fischzelllinien. Dies sind Zellkulturen, die wir unendlich im Labor vermehren können. Sie werden aus einem Donorfisch (“Spendertier”) gewonnen und dann mit viel Geduld und Erfahrung so im Labor kultiviert, dass wir sie endlos und gut reproduzierbar erhalten können. Wir können diese Zellen auch in Flüssigstickstoff konservieren und je nach Bedarf wiederbeleben. Dabei arbeiten wir mit Zelllinien, welche aus verschiedenen Organen der Fische stammen – z.B. der Kieme, der Leber oder des Darms. Diese Zelllinien erlauben uns nicht nur Mechanismen der Physiologie und Toxikologie im Fisch genau zu inspizieren und zu verstehen, sondern auch, mit deren Hilfe Alternativen zu traditionellen toxikologischen Tests mit Fischen zu etablieren. 

Auf welches Projekt blicken Sie mit besonders viel Begeisterung und Stolz? 

Prof. Kristin Schirmer: Ich bin insgesamt sehr stolz auf die Arbeit meines Teams – ich erlebe so viel Engagement für eine sauberere Umwelt und einen besseren Tierschutz – bei all den Studenten / Doktoranden / Postdoktoranden / Technikern / Gästen, mit denen ich über die Jahre zusammenarbeiten durfte. Dabei ist das Projekt, was mich am meisten mit Stolz erfüllt und mein Leben quasi stark geprägt und verändert hat, wohl auch das langfristigste – die Etablierung des ersten, international validierten und anerkannten Fischzelllinientests, um traditionelle akute Fischtests für die Chemikalien- und Wasserqualitätsbeurteilung zu ersetzen. (Chemikalientestung: OECD TG249; Wasserqualitätsbeurteilung: ISO 21115). Die Idee dazu kam mir bereits während meiner Doktorarbeit, welche ich im Labor von Niels Bols an der Universität Waterloo an Fischzelllinien durchgeführt habe. Niels hatte zu dieser Zeit gerade die Entwicklung und erste Charakterisierung der Kiemenzelllinie der Regenbogenforelle, RTgill-W1, veröffentlicht. 

Forschungsgeld für die explizite Entwicklung eines Tests, um den akuten Fischtest zu ersetzen, gab es aber dann erst im Jahr 2007 / 2008 – von CEFIC, der Europäischen Chemischen Industrieverband – d. h. die chemische Industrie erkannte den Bedarf an einer solchen Entwicklung und rief entsprechend Wissenschaftler auf, Forschungsprojekte einzureichen. Da ich bereits viel über diese Strategie nachgedacht hatte, fiel es mir leicht, einen entsprechenden Antrag zu schreiben, welcher dann auch den Wettbewerb gewann. 

Die Entwicklung dauerte einige Jahre und wurde 2013 von der ersten Validierungsstudie gekrönt (Tanneberger et al., 2013; doi: 10.1021/es303505z). 

Von Kollegen aus Industrie und Wissenschaft wurden wir, aufgrund der vielversprechenden Ergebnisse, ermutigt, eine internationale Ringstudie zu lancieren, also andere Laboratorien in dieser Methode zu schulen, um dann zu schauen, ob diese die Methode erfolgreich etablieren und anwenden können und zu bestimmen, inwiefern die Ergebnisse innerhalb und zwischen den Labors reproduzierbar sind (publiziert in: https://doi.org/10.1093/toxsci/kfz057

In dieser Zeit folgte dann auch die Einladung, das Testprotokoll bei der ISO einzureichen (2014) und schließlich auch bei der OECD (2019). Beide Standardisierungsorganisationen akzeptierten den Test, wobei der ISO-Standard (akzeptiert 2019) eher auf die Untersuchung von Wasserproben fokussiert und die OECD TG (akzeptiert 2021) auf Chemikalien. Allerdings kam nun die Frage auf, wer denn diesen Test anbietet, damit er auch von Industrie und Behörden genutzt werden kann. Die Eawag als Forschungsinstitut kann diesem nicht gerecht werden, da ihr Mandat die Forschung und nicht der Service ist. Also haben wir uns entschlossen, eine Firma zu gründen, die aQuaTox-Solutions GmbH. Wir starteten als Eawag Spin-off in 2017. Mittlerweile sind wir ein etabliertes unabhängiges Unternehmen mit eigenem Standort und GLP-Zertifizierung. (https://aquatox-solutions.ch/de/our-company/

Ich kann also sagen, dass wir nicht nur einen neuen Test erdacht und solide etabliert und international validiert haben, sondern dass wir den Test auch erfolgreich in die Praxis überführt haben, als Grundlage für seine Ausbreitung. Und tatsächlich sind mittlerweile auch zahlreiche andere Laboratorien in Industrie und Forschung daran, diesen Test bei sich zu etablieren.  

Unser Wegweiser zum Download

Was hat Sie dazu motiviert, im Forschungsbereich der tierversuchsfreien Methoden tätig zu sein? 

Prof. Kristin Schirmer: Da gibt es eine wissenschaftliche und eine ethische Motivation. Wissenschaftlich gesehen können Tierversuche dazu beitragen, dass wir Fische als Organismen besser verstehen aber diese Versuche haben viele Limitierungen. Gerade wenn es um ein mechanistisches Verständnis geht, geben sie aufgrund der vielseitigen, komplexen Einflüsse oft keine klaren Aussagen. Zellkulturen dagegen erlauben, gezielt Mechanismen zu verstehen, z. B. wie Kiemen- oder Darmzellen auf ihre Umgebung reagieren.  

Ethisch finde ich es nicht vertretbar, dass wir Fische zu Tausenden töten, um zu entscheiden, ob und wie Chemikalien eingesetzt werden können, ohne die Umwelt zu gefährden. Dass die Chemikalien auf ihr Umweltrisiko getestet werden, finde ich natürlich richtig und wichtig, aber nicht auf Kosten der Tiere, die wir eigentlich schützen wollen. 

Zudem habe ich eine Mission: Ich habe nämlich festgestellt, dass wir doch oft in einer Blase arbeiten. Z. B. sind viele Ökotoxikologen traditionell in der Zoologie und der selbstverständlichen Arbeit mit Tieren ausgebildet, nicht aber im Bereich Alternativen dazu. Daher finde ich es wichtig aufzuzeigen, dass Informationen aus Tierversuchen oft auch alternativ, also z. B. mit Zelllinien von Fischen, generiert werden können.  

Wie tragen Ihre Forschungsergebnisse dazu bei, Tierversuche in der Toxikologie zu reduzieren? 

Prof. Kristin Schirmer: Unsere Forschung zeigt auf, wie Ergebnisse aus Tierversuchen alternativ, nämlich mit Hilfe von Zelllinien und auch Computermodellen, generiert werden können. 

Welche Vorteile sehen Sie bei der Verwendung von human-basierten, tierversuchsfreien Methoden in der Toxikologie?  

Prof. Kristin Schirmer: Leider haben sich Human- und Ökotoxikologie mehr oder weniger getrennt voneinander entwickelt und dass, obwohl Methoden und Ziele meist vergleichbar sind mit dem wichtigen Unterschied, dass die Humantoxikologie auf den Menschen als Individuum, die Ökotoxikologie aber auf komplexe Lebensgemeinschaften, abzielt. 

Sowohl Human- als auch Ökotoxikologie haben den Anspruch Mechanismen zu verstehen und diese sind in der kleinsten Einheit des Lebens zu finden – in den Zellen. Das heißt, dass die Ökotoxikologie durchaus von humanen Zellen lernen kann und umgekehrt, vor Allem auch wenn es um evolutionär konservierte Prozesse und Mechanismen geht.  

Vor welchen Herausforderungen steht die Forschung im Bereich der Toxikologie fachlich gesehen und welche Schritte unternehmen Sie und andere Wissenschaftler*innen, um diese anzugehen? 

Prof. Kristin Schirmer: Was die Toxikologie und Alternativen zu Tierversuchen angeht, stehen Entwicklungen zu Vorhersage langfristiger (also chronischer) Wirkungen im Vordergrund, wie z. B. der Einfluss auf das Nervensystem, das Wachstum oder die Reproduktion. Dazu braucht es auch neue oder neu kombinierte Zellsysteme und den Einsatz biomolekularer Methoden, wie z. B. die Proteomik (umfassende Proteinanalyse) und Computermodelle. 

Nach wie vor besteht eine hohe Dominanz der Tierversuche, welche nicht nur ethisch problematisch aber auch von den Ressourcen her limitierend sind. Wir kommen platt gesagt mit dem Testen nicht nach – es braucht also integrierte und effiziente Ansätze, um Chemikalienwirkungen messen zu können. Dabei spielen Zellkulturen eine große Rolle. 

In diesem Zusammenhang setzen wir auch auf den Einsatz der Toxikologie von Beginn an – nach dem Prinzip Safe-by-Design – heißt, dass Chemiker, Materialwissenschaftler und Toxikologen von Beginn an kooperieren, um z.B. schädliches Umweltverhalten oder Effekte von Chemikalien bereits bei ihrer Entwicklung auszuschließen oder zumindest zu minimieren. 

Hierzulande stoßen Wissenschaftler*innen, die mit tierversuchsfreien Methoden arbeiten, aufseiten der Behörden oft auf eine konservative, teilweise ablehnende Haltung. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür und was müsste sich ändern, um moderne und tierversuchsfreie Methoden in Deutschland verstärkt zu etablieren? 

Prof. Kristin Schirmer: Nach meiner Erfahrung sind die Gründe für ein Zurückhalten, was alternative Methoden angeht vielfältig: 

  • Sie sind per Definition neu und meist andersartig als die traditionellen Tests. Dies erzeugt Skepsis und Unsicherheit. 

  • Die Entwicklungen sind rasant und viele Tests könnten möglicherweise helfen, Tierversuche zu ersetzen, was es aber schwierig macht, den Überblick zu behalten und Entscheidungen zu fällen. 

Um diese Situationslage zu überwinden, braucht es Training von beiden Seiten (was sind die Bedürfnisse und was sind die Angebote) und Dialog/Kommunikation, die von Anfang an gemeinsam und offen vorangetrieben wird, in einem sogenannten Co-Design, damit eben Vorurteile vermieden, Vertrauen geschaffen, und von Anfang an klar kommuniziert werden kann was braucht und was geht und was nicht. Dabei sollten alle an einem gemeinsamen Tisch sitzen: akademische Forschung, Vertreter der Industrie, Behörden, NGOs. 

Wie sehen Sie die derzeitige finanzielle Förderung der Forschung zu tierversuchsfreien Methoden? 

Prof. Kristin Schirmer: Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, insofern es um die grundlegende Etablierung geht. Am Beispiel des RTgill-W1-Zelllinien-Assays wäre dies bis zur ersten Proof-of-Concept Studie (Tanneberger et al., 2013). Viele Methoden bleiben genau dort stecken: die Doktorandin ist fertig und das nächste Forschungsprojekt muss etwas Neues sein. Hier wären Finanzierungsmechanismen gefragt, die Forscher unterstützen, die notwendigen nächsten Schritte zu gehen, um wertvolle Alternativmethoden tatsächlich in die Praxis zu überführen: zum einen für Ringstudien und die Koordination der Prozesse bei den Standardisierungsorganisationen; und zum anderen, um den Test dann tatsächlich auch anzubieten, z. B. über ein Spin-Off. 

Diese Prozesse erfordern sehr viel Zeit und Hingabe, man kann diese nicht mal so nebenbei bewerkstelligen. Finanzierungsmechanismen dafür gibt es bisher so gut wie nicht. 

Welche aktuellen Entwicklungen im Bereich der tierversuchsfreien Methoden in der Toxikologie halten Sie für besonders vielversprechend? 

Prof. Kristin Schirmer: Wie oben angeführt die Entwicklung von Zell- und Computerbasierten Methoden zur Vorhersage langfristiger (chronischer) Chemikalienwirkungen. 

Was ist ihr nächstes Ziel? Welche Projekte planen Sie als nächstes? 

Prof. Kristin Schirmer: Aufgrund unserer Erfahrung wissen wir, dass wir mit gezielter Forschung Alternative zu Tierversuchen etablieren können. So arbeiten wir derzeit an der Etablierung eines Tests zur Neurotoxizität und zur Vorhersage von Reproduktionstoxizität als auch an verbindenden Technologien, wie einem Panel an Proteinen, welche verschiedene Arten von Chemikalienstress anzeigen. 

Was mich jedoch am meisten bewegt, auch aufgrund der Erfahrungen, welche ich mit der Etablierung des RTgill-W1-Tests machen durfte, ist die Frage, wie wir solche neuen Tests tatsächlich erfolgreich und zeitnah in die Praxis und die Regulatorik einbringen können. Dafür spannen wir jetzt mit Sozialwissenschaftlern zusammen, deren Kerngebiet Innovationsprozesse sind und was es braucht, Innovationen zum Fliegen zu bringen. Dies beinhaltet die Zusammenarbeit von Beginn an (also das oben erwähnte Co-Design) mit den verschiedenen Interessensvertretern von Industrie / Behörden / NGOs.  

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