Cover des Wegweisers Tierversuchsfreie Wissenschaft

Wegweiser Tierversuchsfreie WissenschaftInterview - Kersten Mewes

Für unsere Publikation Wegweiser Tierversuchsfreie Wissenschaft haben wir mit Dr. Kersten Mewes über tierversuchsfreie Methoden in der Toxikologie, insbesondere im Bezug auf die Sicherheitsprüfung einer möglichen hautsensibilisierenden Wirkung von Chemikalien, gesprochen. 

Porträtfoto von Kersten Mewes
Dr. Kersten Mewes

Dr. Kersten Mewes hat an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Fach Organische Chemie promoviert und ist seit mehr als 20 Jahren für die Firma Syngenta tätig, wo er sich mit den Umweltauswirkungen und der Verstoffwechselung von Pestiziden befasst, insbesondere im Hinblick auf die regulatorische Sicherheitsprüfung. Seit 2016 leitet er das globale Team für regulatorische Sicherheitsprüfungen. 

Herr Dr. Mewes, können Sie unseren Leser*innen einen kurzen Überblick über Ihre Forschung geben?  

Dr. Kersten Mewes: Syngenta ist ein führendes Agrartechnologieunternehmen. Ziel unserer Forschung ist es, die weltweite Ernährungssicherheit zu verbessern, indem wir Millionen von Landwirten ermöglichen, die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen und gleichzeitig unsere Umwelt zu schützen.  

Syngenta hat sich verpflichtet, Wirbeltierstudien nur dann durchzuführen, wenn diese unabdingbar sind und alternative Methoden nicht verfügbar stehen. Meine Gruppe ist sehr aktiv bei der Entwicklung von Alternativen zum Tierversuch zur Unterstützung von Forschungs- und Entwicklungsprozessen für Pflanzenschutzmittel; wo immer möglich wenden wir alternative Methoden an, um wissenschaftliche oder behördliche Anforderungen zu erfüllen. Tierversuche sind im Allgemeinen sehr aufwendig, langsam und teuer, und insofern sind diese Tests nicht geeignet, um unsere Forschungsprozesse zu unterstützen, wo die Verfügbarkeit von Ergebnissen innerhalb kurzer Zeit von wesentlicher Bedeutung ist.  

Können Sie unseren Leser*innen ein Beispiel für eine Anwendungsmöglichkeit Ihrer Forschungsergebnisse geben?   

Dr. Kersten Mewes: Die Forschungsergebnisse meiner Gruppe zu alternativen Methoden werden intern bei Syngenta eingesetzt, um Entscheidungen hinsichtlich des Sicherheitsprofils von Molekülen in unserer Forschungs- und Entwicklungs-Pipeline zu treffen. Diese Forschung konzentriert sich auf Bereiche, in denen mithilfe von In-silico- (also Computer-basierten Modellen) und In-vitro-Tests (also basierend auf Zellkulturen) fundiertere Entscheidungen zur Sicherheit für den Menschen oder die Umwelt getroffen werden können, was auch eine Effizienz in Bezug auf Zeit und Kosten mit sich bringt. Unsere Wissenschaftler*innen sind zudem aktiv daran beteiligt, mit der OECD und anderen Organisationen alternative Methoden zu validieren, zu etablieren sowie sich für deren weltweite regulatorische Akzeptanz einzusetzen. Ein bereits gut etablierter Bereich ist die Testung auf akute Toxizität und lokale Toleranz, bei der In-silico- und In-vitro-Tests validiert und in OECD-Testrichtlinien aufgenommen wurden. Hier werden die Ergebnisse von Alternativmethoden zur Beurteilung von akuter Toxizität, Haut- und Augenreizung sowie Hautsensibilisierung von den Regulierungsbehörden in der EU und darüber hinaus größtenteils anerkannt. 

Unser Wegweiser zum Download

Welche Vorteile sehen Sie bei der Untersuchung der hautsensibilisierenden Wirkung von Chemikalien und anderen Substanzen mit tierversuchsfreien Methoden?   

Dr. Kersten Mewes: Tierversuchsfreie Testmethoden (wie unten aufgeführt) zur Identifizierung von Hautsensibilisierern ersetzen Tierversuche und retten somit Tierleben: Gemäß Testverfahren werden etwa 16 Mäuse [1] oder 30 Meerschweinchen [2] pro getesteter Substanz gerettet. Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass die einzelnen tierversuchsfreien Testmethoden verschiedene Schritte bei der komplexen und vielschichtigen Entstehung einer Hautsensibilisierung untersuchen: zum Beispiel dient der direct peptide reactivity assay (DPRA) dazu, die Haptenisierung (also die Interaktion einer Substanz mit Strukturen in der Haut) zu simulieren, indem die Peptidreaktivität einer Testsubstanz bewertet wird. Der KeratinoSens assay bewertet die Aktivierung von Keratinozyten (also den häufigsten Zellen in der Haut), und der human cell line activation test (h-CLAT) spiegelt die Aktivierung dendritischer Zellen (also den Immunzellen der Haut) wider, indem die Hochregulierung spezifischer Zelloberflächenmarker quantifiziert wird. Während Tierversuche wie beispielweise die Studien mit Meerschweinchen untersuchen, ob am Ende der Testphase eine allergische Reaktion auftritt oder nicht, helfen uns die tierversuchsfreien Testmethoden zusätzlich, die zugrunde liegenden Mechanismen zu verstehen. Wenn die genannten In-vitro-Methoden in Kombination verwendet werden, besteht eine hohe Genauigkeit bei der Identifizierung von Hautsensibilisierern beim Menschen, welche die Vorhersagegenauigkeit aus dem Tierversuch sogar übertreffen kann.   

Auf welches Ihrer Projekte blicken Sie mit besonders viel Begeisterung und Stolz?   

Dr. Kersten Mewes: Ich bin besonders stolz auf eine kürzlich erfolgte behördliche Einreichung von Syngenta zur Genehmigung eines neuen Wirkstoffs, die vollständig auf der Verwendung von NAMs (New Approach Methodologies, also Testmethoden und Prädiktionsmodelle ohne die Verwendung von Versuchstieren) basierte. Für diese Einreichung waren keine neuen Tierversuche erforderlich.  

Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, um tierversuchsfreie Methoden verstärkt zu etablieren?   

Dr. Kersten Mewes: Die wissenschaftlichen Methoden zur Untersuchung von Interaktionen zwischen Organismen und Chemikalien haben sich in den letzten Jahren so entwickelt, dass Alternativen zum Tierversuch verfügbar sind und einen robusten Bewertungsrahmen bieten, um in sehr vielen Fällen die Sicherheit von Chemikalien ohne Tierversuche zu bewerten. Was dringend benötigt wird, ist die Akzeptanz solcher alternativer Testansätze durch die Regulierungsbehörden in Europa und darüber hinaus.  

Welche aktuellen Entwicklungen im Bereich der tierversuchsfreien Methoden in der Toxikologie halten Sie für besonders vielversprechend?   

Dr. Kersten Mewes: Aus meiner Sicht gibt es zwei wichtige Entwicklungen, die gegenwärtig die Begeisterung für tierversuchsfreie Methoden vorantreiben. Die erste Entwicklung ist die Verwendung digitaler Lösungen und künstlicher Intelligenz, um große Datensätze bereits vorhandener Informationen zu analysieren und besser nutzen zu können, um beispielsweise substanzspezifische Mechanismen besser verstehen zu können oder um Vorhersagemodelle zu generieren, die vorhandene Lücken in Datensätzen schließen könnten. Die zweite Entwicklung ist die Verwendung relevanterer In-vitro-Systeme über Einzelzell-basierte Tests hinaus, in der beispielsweise Zellen aus verschiedenen Organen miteinander interagieren, um so entsprechende Organinteraktionen im Kleinstmaßstab zu simulieren (Organ-on-a-chip, Co-culture).  

Können Sie bereits vollständig auf tierische Materialien, wie z. B. Fetales Kälberserum verzichten? Und wenn nein, planen Sie dies für die Zukunft Ihrer Forschung?   

Dr. Kersten Mewes: Die Entwicklung neuer Ansätze umfasst viele verschiedene Methoden, die eingesetzt werden können, von denen einige vollständig auf die Verwendung von tierischen Bestandteilen in Kulturmedien verzichten. Der oben genannte direct peptide reactivity assay (DPRA) ist so ein Beispiel. Darüber hinaus sind wir an branchenübergreifenden Aktivitäten beteiligt, um die Abhängigkeit von Tieren bei der Bewertung der Sicherheit und regulatorischen Anforderungen für unsere Produkte zu reduzieren, d. h. die Abschaffung der 1-Jahres-Hundestudie, oder das HESI-Projekt zur Transformation der Bewertung von Pflanzenschutzmitteln (TEA). Wir nutzen zudem In-silico-Ansätze und entwickeln Vorhersagemodelle als Teil unseres Forschungsprogramms, um frühzeitige Aussagen über potenzielle Toxizitäten und Wirkungsweisen treffen zu können.  

Es gibt bereits einige In-silico-Modelle, die wir routinemäßig in der Entwicklung und zur Erfüllung regulatorischer Anforderungen verwenden, wie z.B. QSAR, die zur Bewertung genotoxischer und hautsensibilisierender Endpunkte eingesetzt werden. Wenn diese mit “read across”-Ansätzen (also der Extrapolation von vorhandenen Daten strukturell ähnlicher Moleküle) kombiniert werden, können sie zur Beseitigung der behördlich geforderten Tierversuche verwendet werden.  

Wir evaluieren unsere internen und externen Anforderungen zur Durchführung von Tierversuchen zur Unterstützung der Zulassung unserer Wirkstoffe und Produkte ständig. Wo immer möglich bemühen wir uns, alternative Ansätze oder wissenschaftliche Expertenbeurteilungen zu nutzen, um sowohl Datenanforderungen zu erfüllen als auch Tierversuche zu ersetzen.  

Derzeit nutzen wir das gesamte Spektrum der Methoden von in silico Modellen, In-vitro-Methoden (Zellkulturen: Bakterien, Pilze (z.B. Hefen, Schleimpilze (Dictyostelium)), tierische und menschliche Zelltypen), read across Ansätzen oder NAMs. Auch nutzen wir die verfügbaren Informationen aus behördlich vorgeschriebenen Tierversuchen, um Alternativmethoden weiter zu verbessern und so die Notwendigkeit von Tierversuchen weiter zu reduzieren.  

Wo sehen Sie (politisch) den größten Handlungsbedarf, um die tierversuchsfreien Methoden weiter voranzubringen?   

Dr. Kersten Mewes: Wie bereits erwähnt existieren in vielen Bereichen etablierte Alternativen zum Tierversuch, und in vielen Fällen sind diese Alternativen wissenschaftlich fundiert. Aus politischer Sicht besteht der größte Handlungsbedarf zur weiteren Förderung von Alternativen zum Tierversuch in der Entwicklung und Umsetzung unterstützender Gesetzgebungen und regulatorischer Rahmenbedingungen auf globaler Ebene. Dies umfasst die Festlegung klarer Richtlinien für die Validierung und Akzeptanz tierversuchsfreier Testansätze sowie die Förderung internationaler Zusammenarbeit zur Standardisierung und Anerkennung dieser Methoden über Ländergrenzen hinweg. Die OECD kann und wird eine wichtige Rolle bei der Entwicklung dieser harmonisierten Testrichtlinien spielen. Die Akzeptanz dieser Ansätze über die OECD-Länder hinaus wird jedoch notwendig sein, um es der Industrie zu ermöglichen, die derzeit obligatorischen Tierversuche zur Unterstützung von Zulassungsverfahren flächendeckend in allen Ländern einzustellen.   

Wie sehen Sie die derzeitige finanzielle Förderung der Forschung zu Alternativmethoden?    

Dr. Kersten Mewes: Syngenta ist bei seiner Forschung zu alternativen Methoden nicht auf öffentliche Mittel angewiesen; dennoch sind unsere Wissenschaftler*innen weltweit in vielen Aktivitäten mit Partnerorganisationen und Behörden engagiert, um die Wissenschaft bei der Anwendung alternativer Ansätze zur Bewältigung von Chemikaliensicherheit und -risiken voranzutreiben. 

Quellenangaben 

[1] Local lymph node assay (OECD 429): 4-5 animals for negative control and three dose groups (additional animals in case of positive control group)   

[2] Buehler / guinea pig maximization test (OECD 406): up to 10 animals for control and 20 animals for treated group (additional animals in case of preliminary screen for irritating effects)  

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