Wegweiser Tierversuchsfreie WissenschaftInterview - Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR)
Für unsere Publikation Wegweiser Tierversuchsfreie Wissenschaft haben wir mit dem BfR über Toxikologie und insbesondere über tierversuchsfreie Methoden für die Überwachung von Algentoxinen, die in Speisemuscheln vorkommen können, gesprochen.
Können Sie unseren Leser*innen einen kurzen Überblick über Ihre Forschung im Bereich der marinen Biotoxine geben?
BfR: Marine Biotoxine sind Stoffwechselprodukte bestimmter Algenarten. Werden solche Algen von Muscheln oder Fischen als Nahrungsquelle genutzt, können sich die Toxine in deren Gewebe anreichern. Beim Menschen können durch den Verzehr von kontaminierten Muscheln in Abhängigkeit von der Art des Toxins verschiedene Erkrankungen hervorgerufen werden. Fische und Meeresfrüchte wie Muscheln, die aus Gebieten stammen, in denen toxinbildende Algen auftreten, müssen daher auf den Gehalt an marinen Biotoxinen untersucht werden, um Verbraucherinnen und Verbraucher vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu schützen.
Das am Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) angesiedelte Nationale Referenzlabor (NRL) für die Überwachung von marinen Biotoxinen entwickelt und validiert chemisch-analytische und zellbasierte Methoden zum Nachweis dieser Toxine. Es arbeitet dabei eng mit den amtlichen Laboratorien der Lebensmittelüberwachung der Länder zusammen. Damit ist das NRL für die Überwachung von marinen Biotoxinen Teil eines EU-weiten Netzwerkes zur Verbesserung der Lebensmittelüberwachung in diesem Bereich. Die Untersuchungen dienen ausschließlich der Arbeit der nationalen Referenzlaboratorien, der Unterstützung anderer Behörden oder der eigenen wissenschaftlichen Forschung. Unter anderem forscht das NRL an der Entwicklung und Validierung von chemisch-analytischen Multitoxin-Methoden zur Erfassung von Paralytic Shellfish Poisoning (PSP)-Toxinen, Tetrodotoxinen (TTX) oder Ciguatoxinen (CTX). Es werden hierbei chromatographische Trennmethoden mit verschiedene Nachweisverfahren genutzt, die entweder auf der Masse der einzelnen Toxinmoleküle beruhen oder deren spektrometrische Eigenschaften nutzen, zum Beispiel die Absorption bestimmter Lichtfrequenzen oder die Abgabe von Lichtwellen in einem bestimmten Spektrum, der Fluoreszenz. Ein weiteres Arbeitsfeld sind zellbasierte Screening-Verfahren (funktionalen Assays auf Basis von Zellkulturen wie der Neuro2a Assay) für den Nachweis von CTX und anderen Toxinen, die die Reizweiterleitung in Nervenzellen stören (Ionenkanal-aktive Toxine).
Welche Vorteile sehen Sie bei der Verwendung von human-basierten, tierversuchsfreien Methoden in der Toxikologie?
BfR: Die Toxikologie untersucht, wie sich Stoffe auf den Körper auswirken. Dazu zählt, Nebenwirkungen von Medikamenten und die Wirkung von Umweltchemikalien auf den Menschen zu erkennen. Um Nebenwirkungen zu erkennen, braucht es Methoden, die für den Menschen aussagekräftig sind. Methoden, die dem menschlichen Körper ähnlich sind, liefern besonders aussagekräftige Ergebnisse. Daher ist es von großer Bedeutung, dass neue Methoden entwickelt werden, die humanes Material nutzen, wie beispielsweise Zellen oder pluripotente Stammzellen.
Wie weit sind die tierversuchsfreien Methoden in Ihrer Entwicklung und Validierung? Können Sie die Tierversuche zur Testung auf marine Biotoxine vollständig ersetzen? Wie tragen Ihre Forschungsergebnisse dazu bei, Tierversuche in der Toxikologie zu reduzieren?
BfR: Bereits 2005 hat das BfR in einem Positionspapier zur Analytik mariner Biotoxine empfohlen, dass Lebensmittelproben mit chemisch-analytischen Methoden zu untersuchen sind. Das BfR hat damals den Maus-Bioassay als Referenzmethode für unzureichend gehalten, weil sich mit dieser Methode nicht sicher bestimmen lässt, welche marine Biotoxine in Muscheln enthalten sind und ob die gesetzlichen Höchstmengen nach EU-Verordnung EG Nr. 853/2004 eingehalten werden. Chemisch-analytische Methoden sowie funktionale Assays sind geeignete Alternativen, mit denen der gesundheitliche Verbraucherschutz besser gesichert werden kann. Die BfR- Position wurde in einer Serie von Stellungnahmen der EFSA (u. a. https://doi.org/10.2903/j.efsa.2009.1306) bestätigt.
Bis Ende 2018 war in der EU-Verordnung noch ein Referenzverfahren zur Bestimmung von marinen Biotoxinen mittels Maus-Bioassay vorgeschrieben. Das NRL zur Überwachung mariner Biotoxine beteiligte sich im Vorfeld an der Erarbeitung und Validierung von tierversuchsfreien Bestimmungsmethoden auf nationaler und internationaler Ebene, die in der europäischen Normung eingebunden wurden. Die Standardisierung ist die Voraussetzung dafür, dass Bestimmungsmethoden als Referenzmethoden in der EU (z.B. die Norm EN 14526) anerkannt werden. Es stehen weiterhin die Entwicklung und Validierung robuster und empfindlicher chemisch-analytischer Analysenmethoden sowie funktionaler Assays im Vordergrund.
Der Maus-Bioassay zur Bestimmung von marinen Biotoxinen in Lebensmitteln wurde in Deutschland in den letzten 20 Jahren nicht durchgeführt. In der Durchführungsverordnung EU 2019/627 zum Nachweis neuer oder neu auftretender mariner Toxine kann von den Mitgliedstaaten neben chemischen Verfahren und alternativen Verfahren mit geeigneter Detektion auch noch der Maus-Bioassay angewendet werden.
Vor welchen Herausforderungen steht die Forschung im Bereich der Toxikologie fachlich gesehen und welche Schritte unternehmen Sie und andere Wissenschaftler*innen, um diese anzugehen?
BfR: Die Toxikologie muss z.B. unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten und Umweltchemikalien frühzeitig erkennen. Dazu braucht sie aussagekräftige Ergebnisse, die auf Mensch und Tier übertragbar sind. Um solche Ergebnisse zu bekommen, muss sie relevante Methoden, Modelle und Ansätze nutzen. Dies ist grundsätzlich die größte Herausforderung.
Welche aktuellen Entwicklungen im Bereich der tierversuchsfreien Methoden in der Toxikologie halten Sie für besonders vielversprechend?
BfR: In der Toxikologie gibt es vielversprechende Methoden und Modelle, mit denen man aussagekräftige Ergebnisse für Mensch und Tier bekommt. Je genauer ein Ansatz bzw. eine Methode den menschlichen Körper abbildet, desto besser ist sie geeignet. In den letzten 20 Jahren hat die Forschung die Möglichkeit entwickelt, Gewebemodelle aus Stammzellen oder Proben von Menschen zu züchten, die dem eigentlichen Organ näherkommen. Diese Organoide können mit speziellen Plastikträgern, sogenannten Chips, gezüchtet werden. Sie helfen uns, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Allerdings sind sie noch nicht so aussagekräftig wie ein komplexer Organismus.
Außerdem gibt es Fortschritte in der Mathematik, Informatik und Informationstechnologie. Computer und entsprechende Programme helfen dabei, Erkenntnisse zu gewinnen, die für die Toxikologie immer wichtiger werden. Dabei ist es hilfreich, dass immer mehr Daten zur Verfügung stehen.
Was ist ihr nächstes Ziel? Welche Projekte planen Sie als nächstes?
BfR: Bioinformatik ist und bleibt bei uns ein Thema. Für den Umgang und die Auswertung multimodaler Daten wird die Bioinformatik benötigt. Neben der Etablierung komplexer biologischer Systeme, z.B. in Form von Organ-on-A-Chip, und der Weiterentwicklung von Hoch-Durchsatz-Verfahren, wird die Metawissenschaft bei uns vorangetrieben. Wir versuchen Informationen zu bekommen, welche bereits existierenden Modelle die größte Aussagefähigkeit haben, um als Alternativmethode zum Tierversuche nach dem 3R-Prinzip zu funktionieren. Wir nutzen dafür auch Text-Data-Mining, um aus unstrukturierten Texten strukturierte Daten zu machen. So gewinnen wir neue Erkenntnisse.
Ein wichtiges Anliegen ist es, dass die Ergebnisse von In-vivo-, Ex-vivo- sowie In-vitro-Forschungsergebnissen nachvollziehbarer sind. Dazu gehört auch, dass alle Ergebnisse aus diesen Forschungsansätzen veröffentlicht werden. National und international die Qualität der Forschung zu steigern, gleichzeitig das Tierwohl zu stärken und die Transparenz über Versuche zu erhöhen sind einige unserer wichtigsten Ziele.
Welche Rolle spielt das BfR bei der Förderung und Entwicklung tierversuchsfreier Methoden?
BfR: Alle zwei Jahre wird die Bf3R Forschungsförderung ausgeschrieben, mit der das BfR Forschungsprojekte unterstützt, die das 3R-Prinzip adressieren. Dabei werden Vorhaben gefördert, die dem Ersatz und der Reduktion von Versuchstieren in Bereichen der medizinischen Forschung oder der biologischen Grundlagenforschung dienen oder die Erkennung, Einstufung und Verminderung von Schmerzen, Leiden oder Schäden bei Versuchstieren und die Verbesserung der Haltungsbedingungen zum Ziel haben. Mit einem Gesamtbudget von ca. 105.000 Euro pro Projekt werden bis zu 10 Projekte mit einem Fördervolumen von ca. 35.000 Euro pro Jahr, bei einer Gesamtlaufzeit von bis zu 3 Jahren gefördert.
Ziel der Bf3R-Forschungsförderung: Insbesondere jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern soll die Möglichkeit gegeben werden, innovative und gewagte Forschungsideen, die etabliertes Wissen herausfordern und konventionelle Hypothesen hinterfragen, im Rahmen einer proof-of-concept Studie zu bearbeiten, um experimentelle Daten für eine erfolgreiche Bewerbung bei größeren Förderprogrammen (z.B. DFG, BMBF) zu sammeln.