Cover des Wegweisers Tierversuchsfreie Wissenschaft

Wegweiser Tierversuchsfreie WissenschaftInterview - Bettina Seeger

Für unsere Publikation Wegweiser Tierversuchsfreie Wissenschaft haben wir mit Prof. Bettina Seeger über tierversuchsfreie Methoden in der Toxikologie, insbesondere im Bezug auf die Sicherheitsprüfung von Botulinumtoxin, gesprochen. 

Porträtfoto von Bettina Seeger
Prof. Bettina Seeger, PhD

Juniorprofessorin Bettina Seeger, PhD, hat an der Tierärztlichen Hochschule (TiHo) Hannover Veterinärmedizin studiert und ist promovierte Toxikologin. Seit Juli 2018 leitet sie an der TiHo die Arbeitsgruppe für Lebensmitteltoxikologie und Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch am Institut für Lebensmittelqualität und –sicherheit.

Frau Prof. Seeger, können Sie unseren Leser*innen einen kurzen Überblick über Ihre Forschung geben? 

Prof. Bettina Seeger: Mein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Entwicklung innovativer In-vitro-Testmethoden, die im Vergleich zu traditionellen Tierversuchen eine bessere Vorhersagekraft bieten. Ich bin besonders auf stammzellbasierte Tests spezialisiert, bei denen Stammzellen u. a. in Organoide differenziert werden, die in Struktur und Funktion natürlichen Organen ähneln. 

Diese fortschrittlichen Modelle ermöglichen es, die Wirkung von Chemikalien und Arzneimitteln präziser vorherzusagen als im Tierversuch. Sie sind zudem kosteneffizient und ethisch vertretbar. Dabei kommt das Konzept der Adverse Outcome Pathways (AOPs) aus der Sicherheitsbewertung von Chemikalien zum Einsatz. AOPs sind vergleichbar mit einer Kette von Dominosteinen, die Schritt für Schritt beschreiben, wie der erste Kontakt mit einer Substanz auf molekularer Ebene zu Veränderungen in Zellen, Organen und Geweben führt und letztlich gesundheitliche Probleme verursachen kann. 

Ein innovativer Ansatz meiner Forschung ist die Übertragung dieser toxikologischen Methoden auf die Infektionsbiologie. Durch die Kombination umfangreicher Daten aus verschiedenen In-vitro-Modellen im Baukastenprinzip können wir tiefere Einblicke in komplexe biologische Prozesse gewinnen. Im aktuell vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt InfectNeuroDev verwenden wir aus Stammzellen generierte Neurosphären. Diese kugelförmigen Zellansammlungen sind ein hervorragendes Modell für das sich entwickelnde Gehirn. Wir untersuchen die Auswirkungen von Infektionen mit Listerien auf die Gehirnentwicklung. Listerien sind Bakterien, die bei Schwangeren zu Lebensmittelvergiftungen führen können und dadurch auch eine Gefahr für den Fötus darstellen. Listerien können den Tod des Fötus verursachen oder langfristige Entwicklungsprobleme wie kognitive Defizite, Lernschwierigkeiten und motorische Beeinträchtigungen hervorrufen. Durch verschiedene Tests an diesen Neurosphären wollen wir die Mechanismen identifizieren, die die Gehirnentwicklung während einer Listerieninfektion beeinträchtigen. Ziel ist es, langfristige Folgen einer Infektion zu verhindern und Therapien zu entwickeln, um diese folgenschweren Gehirnentwicklungsstörungen zu verhindern. 

Stammzellbasierte Modelle sind in diesem interdisziplinären Ansatz von zentraler Bedeutung. Sie ermöglichen die Untersuchung der Auswirkungen von Chemikalien und Infektionserregern auf verschiedene Zelltypen und Organsysteme. Dabei werden auch tierartspezifische Modelle verwendet, um Unterschiede zwischen den Arten zu identifizieren und zu charakterisieren. 

Diese integrative Herangehensweise fügt sich nahtlos in das One Health-Konzept ein, das die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt ganzheitlich betrachtet. Durch Übertragung toxikologischer Prinzipien auf infektiologische Fragestellungen und die Nutzung fortschrittlicher stammzellbasierter Modelle entwickeln wir ein umfassenderes Verständnis für die komplexen Wechselwirkungen zwischen Umweltfaktoren, Infektionserregern und Wirtsorganismen. So tragen wir dazu bei, die Gesundheit von Mensch und Tier nachhaltig zu schützen. 

Welche Vorteile sehen Sie bei der Verwendung von human-basierten, tierversuchsfreien Methoden in der Forschung, insbesondere in Bezug auf die Chargenprüfung von Botulinumtoxin? 

Prof. Bettina Seeger: Obwohl Botulinum-Neurotoxine zu den gefährlichsten natürlich vorkommenden Giftstoffen gehören, werden sie für wichtige medizinische Zwecke, aber zu einem großen Teil auch in der Schönheitsindustrie als Anti-Faltenmittel eingesetzt. Botulinum-Neurotoxine verursachen eine schlaffe Muskellähmung. Jede Arzneimittel-Charge muss auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. Und obwohl einige Hersteller von Botulinum-Neurotoxinen bereits Alternativmethoden entwickelt haben, die allerdings nur mit einzelnen Produkten funktionieren, werden noch viele Mäuse im so gennannten Maus-Bioassay eingesetzt. Dieser Test gilt immer noch als Goldstandard. Tieren werden Verdünnungen des Medikaments in den Bauchraum gespritzt und es wird die Dosis bestimmt, bei der 50 % der Versuchstiere sterben. Dieser Test stellt einen schwer belastenden Tierversuch dar, da die Tiere aufgrund von Atemlähmung versterben. Wie will man jetzt aber tierfrei ein sicheres Medikament zur Verfügung stellen? 

Die besten Vorhersagen für die Risiken von Chemikalien und die Wirkung von Arzneimitteln für den Menschen erhält man, wenn humane Modelle eingesetzt werden. Diese Methoden basieren auf menschlichen Zellen und Geweben und liefern daher Ergebnisse, die besser auf den menschlichen Organismus übertragbar sind als Tierversuche an anderen Spezies. 

Bei der Chargentestung von Botulinum Neurotoxinen ist bekannt, dass Mäuse gegenüber einem der verschiedenen pharmakologisch eingesetzten Toxine (Botulinum Neurotoxin B) 30–100-mal empfindlicher sind als der Mensch. Wir konnten zeigen, dass motorische Neuronen, die aus menschlichen Stammzellen generiert worden sind, ähnlich empfindlich sind, wie der Mensch, also etwas weniger empfindlich als die Maus. Dies unterstreicht, dass diese tierversuchsfreien Neuronen die Wirkung im Menschen besser wiedergeben können als die Maus. Das beeindruckende an unseren menschlichen Nervenzellen ist, dass sie gegenüber allen pharmakologisch wirksamen Botulinum Neurotoxinen empfindlich sind und geeignet sind, um eine Alternativmethode zu entwickeln. So müsste keine neue Methode für jedes neue Produkt entwickelt werden, wie das aktuell noch der Fall ist, sondern diese auf menschlichen Nervenzellen beruhende Methode wäre für alle Produkte gleichermaßen geeignet. 

Zusammenfassend haben human-basierte, tierversuchsfreie Methoden oft eine höhere Vorhersagekraft für Wirkungen im menschlichen Organismus. Zudem bieten sie ethische Vorteile, da keine Tierversuche mehr durchgeführt werden müssen, deren Übertragbarkeit auf den Menschen fraglich ist. Wenn diese neuen Methoden etabliert sind, sind sie meist schneller und kostengünstiger als entsprechende Tierversuche. 

Unser Wegweiser zum Download

Können Sie unseren Leser*innen ein Beispiel für eine Anwendungsmöglichkeit Ihrer Forschungsergebnisse geben? 

Prof. Bettina Seeger: Ein Beispiel für eine Anwendung unserer Forschungsergebnisse ist unser aktuelles Projekt im Rahmen eines großen EU-Konsortiums namens PARC (Partnership for the Assessment of Risks from Chemicals), PeriMyelinTox. Wir entwickeln ein Modell, das Chemikalien identifizieren soll, die die Schutzhülle von Nerven schädigen und dadurch Schmerzen verursachen können. Dieses Modell wird als Teil einer Reihe von In-vitro-Tests verwendet, um die schädlichen Auswirkungen von Chemikalien auf das Nervensystem umfassend zu erfassen. 

Unsere Methode wird zukünftig mit anderen Labortests kombiniert, um festzustellen, ob und wie Chemikalien Nerven schädigen können. Das Besondere an PARC ist die enge Zusammenarbeit zwischen den Testentwickler*innen und den Kolleg*innen aus den Regulierungsbehörden. Diese neuen Testmethoden (engl.: New Approach Methodologies, NAMs) berücksichtigen von Anfang an die praktische Anwendbarkeit, sodass die Ergebnisse auch offiziell für gesetzlich geforderte sicherheitstoxikologische Tests anerkannt werden können. So sollen dann auch Ergebnisse aus unserem PeriMyelinTox-Test behördlich anerkannt werden. Diese Herangehensweise ist innovativ und sehr vielversprechend, da sie die Umsetzung tierversuchsfreier Methoden in der Praxis erleichtert und beschleunigt. 

Auf welches Ihrer Projekte blicken Sie mit besonders viel Begeisterung und Stolz? 

Prof. Bettina Seeger: Neben meinem ersten eigenständigen Projekt, MoNLightBoNT, das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde, blicke ich mit besonderem Stolz auf die vielen spannenden Projekte, die ich heute verfolgen kann. In MoNLightBoNT konnten wir zeigen, dass menschliche, stammzellabgeleitete motorische Nervenzellen die Empfindlichkeit des Menschen gegenüber pharmakologisch wirksamen Botulinum-Neurotoxinen besser widerspiegeln als die Maus. 

Ein weiteres Highlight ist unsere Arbeit an dem Projekt „Chronic Pain in a Dish“, das von einer Stiftung zur Förderung der Erforschung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zur Einschränkung von Tierversuchen (set) unterstützt wird. Ziel dieses Projekts ist es, chronische Schmerzen in der Haut tierversuchsfrei zu modellieren. In der Schmerzforschung ist die Belastung von Versuchstieren besonders hoch, da Schmerz ohne die Verabreichung von Schmerzmitteln erforscht werden muss. Oftmals lassen sich die Ergebnisse aus diesen Tierversuchen jedoch nicht auf den Menschen übertragen, insbesondere in der Arzneimittelentwicklung. Dies unterstreicht den Wert tierversuchsfreier Modelle, die menschliche Bedingungen präziser nachbilden können. 

Deshalb entwickeln wir ein humanes Hautmodell, in das Nervenzellen einwachsen. Bei einem gesunden Menschen sollten diese Nervenzellen keine langen Ausläufer in die oberen Hautschichten wachsen lassen. Bei chronischen Schmerzen in der Haut hingegen wachsen die Nervenzellen vermehrt in diese Schichten und schütten Botenstoffe aus, die eine Entzündungsreaktion hervorrufen. Für die betroffenen Patient*innen kann dies zu Symptomen wie Taubheit, Kribbeln, brennendem oder stechendem Schmerz, Überempfindlichkeit, Muskelschwäche, -krämpfen, -zuckungen und Koordinationsproblemen führen. 

Wir setzen bei der Entwicklung dieses menschlichen In-vitro-Modells auf eine Kombination von 2D- und 3D-Modellen, die zusammenarbeiten, um sichere und wirksame Medikamente für den Menschen zu entwickeln. Diese innovative, bausteinartige Herangehensweise ermöglicht es, die komplexen Mechanismen chronischer Schmerzen besser zu verstehen und gezielt zu behandeln. 

Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, um tierversuchsfreie Methoden hierzulande verstärkt zu etablieren? 

Prof. Bettina Seeger: Die Entwicklung tierversuchsfreier Methoden für die Toxikologie hat großes Potenzial, wird jedoch noch nicht vollständig genutzt. Ein Schlüssel zum Erfolg liegt in der Standardisierung, Wiederholbarkeit und hohen Vorhersagekraft dieser Methoden, um ihre Akzeptanz durch Regulierungsbehörden zu gewährleisten. 

Um diese Herausforderung zu meistern, ist es entscheidend, dass Regulierungsbehörden, Testentwickler*innen und Industriepartner eng zusammenarbeiten. Das EU-Projekt PARC zeigt hier bereits vielversprechende Ansätze, indem Kolleg*innen von Universitäten und Regulierungsbehörden gemeinsam an der Entwicklung hochwertiger Methoden arbeiten. Diese Zusammenarbeit erhöht nicht nur die Qualität der Methoden, sondern erhöht auch den Druck auf die Politik, die Akzeptanz dieser innovativen Methoden voranzutreiben. 

Ein weiteres spannendes Zukunftsfeld liegt in der Grundlagenforschung, die bisher stark auf etablierte Tiermodelle setzt. Hier bieten sich immense Chancen durch die Integration von Daten aus verschiedenen Quellen und den Einsatz prädiktiver, menschlicher Modelle. Das Feld verändert sich zunehmend: Während vor Kurzem nur Studien in hochrangigen Fachjournalen publiziert wurden, wenn sie auch Tierversuchsdaten enthielten, gewinnt nun die Qualität und Relevanz der erzeugten Daten, auch aus komplexen tierversuchsfreien Modellen, an Bedeutung. Der verstärkte Austausch zwischen der In-vitro- und In-vivo-Community kann innovative Ansätze hervorbringen und die besten wissenschaftlichen Aussagen ermöglichen. 

Zusammengefasst: Um tierversuchsfreie Methoden erfolgreich zu etablieren, müssen wir engere Kooperationen schaffen, Forschungsansätze erweitern und den Fokus auf die Qualität und Relevanz der Daten legen. 

Was sind die größten Herausforderungen, mit denen Sie bei der Übertragung Ihrer Forschungsergebnisse auf klinische Anwendungen konfrontiert sind? Können Sie bereits vollständig auf tierische Materialien, wie z.B. Fetales Kälberserum oder Matrigel verzichten? Und wenn nein, planen Sie dies für die Zukunft Ihrer Forschung? 

Prof. Bettina Seeger: Vermeintliche In-vitro-Methoden stützen sich in vielen Fällen immer noch auf tierische Produkte. Dazu gehören neben dem von Ihnen genannten fetalen Kälberserum (FKS) und aus Maustumoren gewonnene Beschichtungen für Zellkulturschalen, wie Matrigel auch Antikörper. Unsere Arbeitsgruppe setzt sich intensiv dafür ein, all diese Komponenten zu ersetzen. 

Besonders relevant ist dieses Thema bei der Entwicklung von In-vitro-Methoden, die regulatorisch akzeptierte und reproduzierbare Ergebnisse liefern sollen, welche auch in der Biomedizin von hoher Bedeutung sind. 

In der Stammzellkultur verwenden wir bereits tierfreie Ersatzprodukte für FKS. Aktuell arbeiten wir daran, Matrigel und andere tierische Substrate in der Stammzellkultur und zukünftig auch in neuronalen Differenzierungen durch chemisch definierte, tierfreie extrazelluläre Matrizen zu ersetzen. Dies reduziert nicht nur die Nutzung von Tieren, sondern verbessert auch die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse. Darüber hinaus ersetzen wir schrittweise unsere tierischen Antikörper durch rekombinante Antikörper für Immunfluoreszenzfärbungen und andere biochemische Anwendungen. 

Obwohl wir vor Herausforderungen stehen, die sowohl Zeit als auch finanzielle Mittel erfordern, sind wir optimistisch und entschlossen, In-vitro-Methoden in Zukunft vollständig tierfrei zu gestalten. Unsere Fortschritte auf diesem Gebiet zeigen bereits vielversprechende Ergebnisse und tragen zu einer ethisch vertretbaren und wissenschaftlich hochwertigen Forschung bei. 

Wo sehen Sie (politisch) den größten Handlungsbedarf, um tierversuchsfreie Methoden weiter voranzubringen? 

Prof. Bettina Seeger: Politisch gesehen besteht der größte Handlungsbedarf darin, die Akzeptanz von Ergebnissen aus neuen tierversuchsfreien Testmethoden in gesetzlich geforderten Tests, wie in der Chemikalienzulassung und Arzneimittelentwicklung zu fördern und diese für regulatorische Zwecke anerkennen zu lassen. Dies erfordert eine Vereinfachung des Validierungsprozesses für neue Methoden. 

Projekte wie PARC legen hierfür einen wichtigen Grundstein. Die enge Zusammenarbeit von Regulierungsbehörden und Wissenschaft in der Testentwicklung ermöglicht es, die Voraussetzungen für neue Methoden leichter zu erfüllen und Einfluss auf gesetzliche Grundlagen nehmen. Es ist essenziell, sicherzustellen, dass ausreichende Mittel für die Entwicklung und Validierung neuer Methoden bereitgestellt werden, um die Umsetzung dieser innovativen Ansätze zu unterstützen. Mit diesen Maßnahmen können wir tierversuchsfreie Methoden zukunftsorientiert voranbringen und gleichzeitig den wissenschaftlichen Fortschritt fördern. 

Wie sehen Sie die derzeitige finanzielle Förderung der Forschung zu tierversuchsfreien Forschungsmethoden? 

Prof. Bettina Seeger: Aktuelle Förderprogramme leisten bereits wertvolle Beiträge, doch es gibt noch Raum für eine Ausweitung der Mittel. Besonders erfreulich ist der Fokus auf die Entwicklung von Methoden mit industriellem Anwendungspotenzial, da diese eine schnelle und gut messbare Reduktion von Tierversuchen ermöglichen. Um die praktische Umsetzung zu beschleunigen, sollte die Finanzierung der Validierung solcher Methoden im Bereich der gesetzlich geforderten Tests verstärkt werden. 

Ein weiteres zukunftsweisendes Ziel ist die Förderung der Entwicklung neuer Methoden in der Grundlagen- und biomedizinischen Forschung, wo die Anzahl der verwendeten Tiere noch sehr hoch ist. Durch verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der In-vitro- und In-vivo-Community sowie die Entwicklung relevanter Methoden für die Biomedizin könnten neue Anreize geschaffen werden. Dies würde nicht nur helfen, wissenschaftliche Fragestellungen effizienter zu bearbeiten, sondern auch den Einsatz von Tieren nachhaltig verringern. 

Ein Aspekt, der noch stärker berücksichtigt werden sollte, ist die Langzeitförderung innovativer Projekte. Oftmals fehlt es an kontinuierlicher Unterstützung, um neue Methoden von der Entwicklung bis zur vollständigen Implementierung zu begleiten. Durch eine gezielte Langzeitförderung könnten Projekte stabiler finanziert und somit erfolgreicher umgesetzt werden. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die finanzielle Förderung auf einem vielversprechenden Weg ist, aber noch weiter ausgebaut werden sollte, um das volle Potenzial tierversuchsfreier Methoden zu realisieren und deren Anwendung in der Praxis zu beschleunigen. 

Welche aktuellen Entwicklungen im Bereich der tierversuchsfreien Forschung im Bereich der Toxikologie halten Sie für besonders vielversprechend? 

Prof. Bettina Seeger: Besonders vielversprechend sind die aktuellen Entwicklungen in der Toxikologie, die auf der Kombination von Daten aus verschiedenen Quellen und der Nutzung von Adverse Outcome Pathways (AOPs) basieren. Diese innovativen Ansätze ermöglichen eine genauere Risikobewertung, indem sie unterschiedliche biologische und toxikologische Daten verknüpfen. 

Ein herausragendes Beispiel sind die Fortschritte im Bereich der Entwicklungsneurotoxikologie, wo Methoden entwickelt werden, die ohne Tierversuche die schädlichen Auswirkungen von Chemikalien auf das Nervensystem untersuchen können. 

Immer häufiger kommen stammzellbasierte Testsysteme zum Einsatz, insbesondere solche, die auf menschlichen Zellen basieren. Dazu zählen komplexe Modellsysteme wie Organoide, Sphäroide, 3D-Gewebemodelle und mikrofluidische Chipsysteme, in denen mehrere Organsysteme miteinander verbunden werden können. Ziel ist es, Multimethoden zu entwickeln, bei denen ein Testsystem beispielsweise OMICs-Daten zur Gen- und Proteinexpression liefert, um Signalwege zu identifizieren, die gesundheitsschädliche Effekte auslösen. In denselben Modellen können dann auch funktionelle Tests durchgeführt werden. Dadurch werden tierversuchsfreie Methoden immer relevanter, um "Big Data" zu generieren und möglichst viele Informationen aus einem einzigen Versuch zu gewinnen. 

Diese Fortschritte zeigen, dass wir in der Toxikologie auf einem sehr guten Weg sind. Die kontinuierliche Weiterentwicklung dieser Methoden hat das Potenzial, die Toxikologie grundlegend zu transformieren und tierversuchsfreie Ansätze nachhaltig zu etablieren. 

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